Vorfahrt für Karton
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    Wissenschaft
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    Medikamente neu verpackt

    Bedingt durch ihre nahezu perfekten Eigenschaften dienen Kunststoffe und insbesondere Polyvinylchlorid (PVC) seit Jahrzehnten als sicheres Verpackungsmaterial für Arzneimittel. Doch angesichts der negativen Umweltfolgen von PVC arbeitet Novartis daran, nachhaltige Verpackungen für medizinische Wirkstoffe zu finden und bis 2030 plastikneutral zu werden.

    Text von Goran Mijuk, Fotos von Nicolas Heitz

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    Durch kleinere Verpackungen Karton einsparen.

    Publiziert am 05/10/2020

    Als die Rauchsäule, die lange Zeit aus dem Schlot einer industriellen Verbrennungsanlage aufgestiegen war, endlich verpuffte, wusste Brett Fulford, dass er – in technischer und beruflicher Hinsicht – auf dem richtigen Weg war.

    Das war Anfang der 1990er-Jahre. Fulford, seinerzeit bei Rechem International beschäftigt, hatte zuvor einen der ersten Nasselektrofilter im Vereinigten Königreich installiert. Dieser Hightechfilter ermöglicht es Fabriken, toxische Chemikalien ohne schädliche Folgen für die Umwelt zu verbrennen.

    «Über mein Funkgerät wies ich das Kontrollcenter an, den Filter einzuschalten», erinnert sich Fulford über 20 Jahre später an diesen Augenblick. «Und so verschwand plötzlich die dampfende Rauchwolke, die sonst immer meilenweit zu sehen war. Dass ich selbst dazu beigetragen hatte, diese giftigen Abfälle zu beseitigen, erfüllte mich mit Freude.»

    Fulford, der einst am Leicester Polytechnic Ingenieurtechnik studiert hat, ist ebenfalls Fachmann für Abfallbehandlung und Umweltschutz. «Ich war eine Zeit lang auf das Thema Design fokussiert und arbeitete für eine in diesem Bereich tätige Firma, da mich Produktdesigner wie Philipp Starck total begeisterten», bemerkt Fulford. «Doch letztlich entschied ich mich für Umweltwissenschaften, einen ganz neuen und spannenden Bereich, in dem ich meine technischen Fähigkeiten auf die Probe stellen konnte.»

    Als Fulford seine Ausbildung an den Universitäten Manchester und Loughborough fortsetzte, gab es nur eine Handvoll Ingenieure in dieser aufstrebenden Disziplin, die trotz des wachsenden gesellschaftlichen Umweltbewusstseins noch immer ein Schattendasein fristete. «Wir waren nur ein kleiner Haufen», erinnert sich Fulford. «Doch das gab uns das Gefühl, Wegbereiter zu sein und wirklich etwas zu bewirken.»

    Plastikneutralität

    Der Pioniergeist und die Motivation, zu einer sauberen Umwelt beizutragen, liessen Fulford, der vor mehr als zwei Jahrzehnten in die Pharmabranche und vor rund drei Jahren zu Novartis wechselte, nie wieder los. Als Head of Environmental Projects betreut er heute eine Reihe grosser und kleiner Projekte, die das Unternehmen nachhaltiger gestalten werden.

    Eines seiner wichtigsten Vorhaben besteht darin, Novartis bis 2030 plastikneutral zu machen. Dabei soll das Gewicht entsorgter Plastikverpackungen dem Gewicht der wiederverwerteten Kunststoffe entsprechen.

    Dafür entwickelt Fulford neue Verfahren, um PVC zu reduzieren. PVC gehört zu den meistverwendeten Kunststoffen in Arzneimittelverpackungen und wurde – bedingt durch seine schützenden Eigenschaften – von Patienten und Aufsichtsbehörden bislang kaum hinterfragt.

    Obwohl die ökologischen Auswirkungen von PVC bekannt sind, ist das Material in der weltweiten Verpackungsbranche sehr beliebt und dürfte in den nächsten Jahren weiter an Volumen zunehmen. Wenngleich der Markt für medizinische Verpackungen verglichen mit anderen Branchen klein ist, ist PVC aufgrund seiner hohen Flexibilität und niedrigen Kosten allgegenwärtig.

    «PVC wird schon so lange verwendet, dass es erst seit Kurzem, wenn überhaupt, infrage gestellt wird», macht Fulford deutlich. «PVC ist in vielerlei Hinsicht das zuverlässigste und sicherste Material für die Lagerung und den Verkauf von Arzneimitteln. Man bedenke beispielsweise, dass Medikamente weltweit über grosse Entfernungen transportiert und unter anderem vor Druck- und Temperatureinwirkung geschützt werden müssen.»

    Sekundärverpackung

    Aufgrund seiner Robustheit und seiner Unempfindlichkeit gegenüber starken Stössen und hohen Temperaturen ist PVC die erste Wahl für Primärverpackungen und fungiert in der klassischen Blisterverpackung als Schutzschild für Arzneimittel.

    Obwohl Novartis an neuen Verfahren arbeitet, um PVC in diesem Bereich zu ersetzen, sind die aufsichtsrechtlichen und technischen Barrieren derzeit so hoch, dass sich die meisten Bemühungen auf Konzepte beschränken. Etwas anders sieht es aber bei Sekundär- und Tertiärverpackungen sowie in der Verpackungsgestaltung für neue Arzneimittel aus.

    Federführend bei einer der vielversprechendsten Initiativen zur PVC-Ablösung ist Yves Steffen, der den Bereich TRD Packaging & Device Commercialization leitet und an der Verwendung neuer Materialien für Sekundärverpackungen von biologischen Therapien arbeitet. Diese Verpackungen sollen beispielsweise Einzeldosen in einer Schachtel zusammenhalten.

    «Alles, was wir tun, muss wirtschaftlich sinnvoll sein und darf keinesfalls die Sicherheit der Patienten beeinträchtigen», stellt Maschinenbauingenieur Steffen klar, der seit 16 Jahren für Novartis tätig ist und die Schwierigkeiten kennt, wenn es ein Material zu ersetzen gilt, das in der Branche bis dato der unangefochtene Favorit ist. «Wir suchen nach Lösungen, die kaum Investitionen erfordern und unserer Produktion den richtigen Anreiz verschaffen, sich auf ein neues Material einzulassen.» Ein Anfangserfolg war der Ersatz von PVC-Folie für neu lancierte Biologika, die häufig in Fertigspritzen transportiert werden. Statt bei der Sekundärverpackung, die das Produkt in der Schachtel zusammenhält, auf PVC zu setzen, suchte die Gruppe nach wiederverwertbaren Materialien, die die Umwelt nur wenig belasten.

    «Unsere Suche mündete schliesslich in Bio-Thermoplastik auf Basis nachwachsender Rohstoffe», so Steffen weiter. «Es gelang uns, das Abfallaufkommen zu reduzieren und Kosten zu sparen. Und da Sekundärverpackungen für Biologika keiner behördlichen Zulassung bedürfen, konnten wir PVC sehr schnell durch dieses neue Material ersetzen.»

    Angesichts der Effizienz, mit der das Team das Projekt umsetzte, haben Steffen und seine Kollegen nun vor, bei Sekundärverpackungen für Biologika vollständig auf PVC zu verzichten. Unterdessen will Novartis, die für ihre Produkte einen Verbrauch von 30 000 Tonnen Kunststoff errechnet hat, PVC auch von Ampullenträgern und Kunststoffbändern für Flaschenverschlüsse verbannen und Flaschen durch Beutel ersetzen.

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    Kunststoff bei Sekundärverpackungen ausmerzen: Um die Spritze nicht mehr mit PVC in der Primärverpackung fixieren zu müssen, haben Ingenieure einen stabilen Kartoneinsatz entwickelt.

    Vor­fahrt für Kar­ton

    Steffen und seine Kollegen wollen inzwischen noch höher hinaus und erörtern mit Lieferanten neue Konzepte, um nichtkritische Bestandteile durch wiederverwertbare Kunststoffe oder alternative Materialien zu ersetzen. Ebenso arbeiten sie an Design-Prinzipien für neue Produkte, um diese kleiner, attraktiver und benutzerfreundlicher zu gestalten. «Wir müssen bei jedem neuen Produkt abklären und uns selber fragen, ob wir die nachhaltigste Lösung gefunden haben», führt Steffen aus.

    Eines der fortgeschrittenen Projekte betrifft die Entwicklung kunststofffreier Verpackungen für ein Biopharmazeutikum. Statt PVC oder biologisch abbaubare Kunststoffe als Sekundärverpackung zu verwenden, arbeitet das Team an einer Lösung, die ausschliesslich auf Karton beruht. Das Medikament befindet sich dabei in einem sorgsam gefalteten Karton, der einen sicheren Produkttransport ermöglicht. Damit sinkt neben dem Bedarf an Tertiärverpackungen auch das Gewicht der Packung selbst.

    Auf diese Leistung ist Cemil Ertuerk, Packaging Design Manager in Basel, stolz. Denn die Verpackung trägt nicht nur dazu bei, den Kohlenstoffausstoss und Kunststoffverbrauch von Novartis zu reduzieren, sondern zeigt auch, dass sich mit Einfallsreichtum und Kreativität die Kosten deutlich senken lassen. «Mit der veränderten Packungsgrösse sparen wir jetzt auch bei den Lager- und Transportkosten erheblich, da wir auf einer Transportpalette mehr Produkte unterbringen», freut sich Ertuerk. «Dank der neuen Lösung können wir die Zahl der Einzelpackungen pro Palette fast verdoppeln.»

    Wiederverwertung

    Ein weiteres Projekt, mit dem sich Novartis ausgiebig befasst, ist die potenzielle Wiederverwertung von Kunststoffteilen einiger Inhalatoren.

    So will Novartis in Zusammenarbeit mit TerraCycle, einer US-Recyclingplattform, herausfinden, ob die Patienten dazu bereit sind, Teile gebrauchter Inhalatoren der Wiederverwertung zuzuführen. «Dies ist ein völlig neues Konzept, bei dem wir noch ganz am Anfang stehen», erklärt der Leiter des Pilotprojekts in der Schweiz, Rahul Habibur.

    Laut ersten Plänen will Novartis eine Sensibilisierungskampagne lancieren, in deren Rahmen sich Teilnehmende auf der TerraCycle-Website für das Programm anmelden können. Das US-Unternehmen würde dann nicht nur gebrauchte Kunststoffteile sammeln, sondern die Teilnehmenden auch mit Punkten belohnen, mit denen sie wohltätige Organisationen unterstützen können. Andere Konzepte zielen zudem darauf ab, Apotheken als öffentliche Sammelstellen einzubeziehen.

    «Auch wenn wir noch in der Konzeptionsphase stecken, stand von Anfang an fest, dass wir eine breite Palette von Inhalatoren abdecken wollen, um Skaleneffekte zu erzielen», stellt Habibur klar. «Wenn das Pilotprojekt funktioniert, ist das ohne Frage ein vielversprechender Ausgangspunkt, da Kunststoff bei zahlreichen Produkten noch immer für die Primärverpackung verwendet wird. Kunststoffe zu sammeln und wiederzuverwerten, hätte für die Gesellschaft einen gewaltigen Nutzen.»

    Kultureller Wandel

    Obwohl Steffen und seine Kollegen zuversichtlich sind, schnell Fortschritte zu erzielen, erschwert die Komplexität, die mit der Ablösung altbewährter Verpackungskonzepte verbunden ist, das Unterfangen auch aus kulturellen Gründen. «Es kommt nicht nur darauf an, gute Ideen zu haben und kreativ zu sein», macht Steffen deutlich. «Unsere internen und externen Partner können wir nur überzeugen, wenn wir das Unternehmen auch wirtschaftlich effizienter machen.»

    Fulford ist ebenfalls optimistisch, dass das Projekt an Dynamik gewinnen wird. Genauso ist er aber davon überzeugt, dass ein allgemeiner Paradigmenwechsel nötig ist. «Vor zehn Jahren war den meisten Menschen nicht bewusst, dass von Kunststoffen Umweltgefahren ausgehen. Inzwischen ist allgemein bekannt, dass sich Kunststoffe in der Umwelt ansammeln. Jetzt ist die Wirtschaft gefordert.»

    Während einige Umweltaktivisten befürchten, dass die Ozeane bis Mitte des 21. Jahrhunderts mehr Plastik als Fische enthalten, ist es bereits Tatsache, dass Mikroplastikabfälle in die globale Nahrungskette gelangen. «Unser Unternehmen muss sich den Umweltschutz auf die Fahne schreiben – vergleichbar mit unserem Willen, bahnbrechende Arzneimittel zu entwickeln. Wenn wir versuchen, weniger Kunststoff zu verwenden, schützen wir nicht nur die Umwelt, sondern sichern uns letztlich auch mehr Rückhalt in der Gesellschaft. Eine grössere Wertschätzung kann ein medizinisches Unternehmen nicht erfahren», so Fulford abschliessend.

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